Walter Harmens

Komponist | Kapellmeister

Lale-Andersen-Archiv

Was Militärmusik in einer vom Militär geprägten Stadt bedeutete, erst recht ohne Hörfunk und Fernsehen in jedem Haushalt – davon können wir uns heute schwer einen Begriff machen. In Potsdam aber war die Militärmusik sozusagen zu Hause. Marschmusik hat hier vor 1945 stets die Straßen und Plätze erfüllt. Kesselpauken dröhnten, der Schellenbaum klimperte. Nicht nur an Kaisers Geburtstag oder an Jahrestagen preußischer Schlachten. Vielfältig waren die Parademärsche der Potsdamer Regimenter, die Namen ihrer Kapellmeister über unsere Stadtgrenzen hinaus bekannt. Aus diesem Kulturleben ist nur von einigen, den Namhaftesten, hörbar etwas erhalten geblieben: Wie beispielsweise vom Potsdamer Militärmusiker Walter Harmens (1879–1963) dank zahlreicher Schallplattenaufnahmen.

Walter Harmens stammte ursprünglich aus Germau, im ostpreußischen Samland, war aber zum dreijährigen Studium (Kornett und Violine) an die Hochschule für Musik, Berlin-Charlottenburg, gekommen. Nach seiner Hochschulprüfung wurde er zum Litauischen Dragoner-Regiment Prinz Albrecht von Preußen Nr. 1 nach Tilsit kommandiert. Zwei Jahre darauf war er bereits dessen Musikmeister und führte das Trompeterkorps.

 

Als junger Dirigent, als Nachfolger des bekannten „Blitzkomponisten“ Robert Leuschner, hatte Harmens in Tilsit aber auch Sinfonien von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert aufgeführt und sich so einen Namen gemacht. Hier erwies sich musikalisches Können eines Dirigenten gerade in der Fähigkeit, seine Militärkapelle zu einem sinfonischen Orchester umwandeln zu können und damit klassischen Kompositionen gewachsen zu sein.

 

  • Das Dragoner-Regiment I zu Tilsit
    In seiner Erzählung „Die Reise nach Tilsit“ (1917) schildert Hermann Sudermann einen Auftritt des Litauischen Dragoner-Regiments Nr. 1 unter ihrem musikalischen Leiter Walter Harmens. Einem der Platzkonzerte lauschen staunend die Hauptpersonen der Erzählung, Ansas und Indre: „Nicht weit von ihnen ist eine kleine Halle aufgebaut mit dünnen Eisenständern und einem runden Dachchen darauf. Die füllt sich mit hellblauen Soldaten. O Gott, so vielen und blanken Soldaten! Während es doch sonst nur drei oder vier schmutzige Vagabunden sind, die Musik machen…“

In Tilsit

Noch während dieser Anfangszeit setzte ihm Hermann Sudermann ein literarisches Denkmal: In der berühmten „Reise nach Tilsit“ (1917) gibt der vielgelesene Schriftsteller Stimmung, Eindruck und Publikum bei einem Platzkonzert der hellblauen Dragoner unter Walter Harmens wieder. Sudermanns längere, hier gekürzte Passage verdeutlicht, dass es gerade die Militärkapellen waren, die weite Teile der Bevölkerung mit einer Bandbreite an Musik vom Gassenhauer bis zur Kunstmusik in Berührung brachten – künstlerisch auf hoher Stufe stehend, dabei volkstümlich, ohne ins Triviale abzugleiten. Die Beherrschung solcher Bandbreite bestimmte natürlich Erfolg und Beliebtheit eines Militärorchesters:

 

Zuerst kommt ein Stück, das heißt „Der Rosenwalzer“. So steht auf einem Blatt zu lesen, das Ansas von dem Kassierer gekauft hat. Wie das gespielt wird, ist es, als flöge man gleich in den Himmel. Dicht vor den Musikern haben sich zwei Kinderchen gegenseitig um den Leib gefaßt und drehen sich im Tanze. Da möchte man gleich mittanzen… Wie das Stück zu Ende ist, klatschen alle, und auch die Indre klatscht. Rings wird es still, und die Kaffeetassen klappern… Dann hört die Pause auf, und es kommt ein neues Stück. Das heißt „Zar und Zimmermann“. Der Zar ist der russische Kaiser. Daß man von dem Musik macht, läßt sich begreifen. Warum aber ein Zimmermann zu solchen Ehren kommt, ein Mensch, der schmutzige Pluderhosen trägt und immerzu Balken abmißt, bleibt ein Rätsel.

 

Dann kommt ein drittes Stück, das wenig hübsch ist und bloß den Kopf müde macht. Das hat sich ein gewisser Beethoven ausgedacht. Aber dann kommt etwas! Daß es so was Schönes auf Erden gibt, hat man selbst im Traum nicht für möglich gehalten. Es heißt: „Die Post im Walde“. Ein Trompeter ist vorher weggegangen und spielt die Melodie ganz leise und sehnsüchtig von weit, weit her, während die andern ihn ebenso leise begleiten. Man bleibt gar nicht Mensch, wenn man das hört!

 

  • Walter Harmens um 1925
    Walter Harmens um 1925
  • Das Musikkorps der 3. (preuß.) Nachrichten-Abteilung, unter Leitung seines Obermusikmeisters Walter Harmens.
    Das Musikkorps der 3. (preuß.) Nachrichten-Abteilung, unter Leitung seines Obermusikmeisters Walter Harmens.

In Potsdam

Tilsit war mit seiner alten Garnison ebenso verwachsen wie Potsdam. Hier, in der Havelstadt, übernahm Walter Harmens ab dem Jahr 1921 die Leitung des Trompeterkorps der 3. (preuß.) Nachrichten-Abteilung, hier wurden bald auch Schallplatte und Rundfunk auf den Obermusikmeister aufmerksam – und blieben es bis etwa 1936. Seine Veröffentlichungen bei den Firmen Odeon, Gloria, Tri-Ergon und Clangor machen natürlich Konzessionen an den Käufergeschmack; sie zeigen aber dennoch Vielfalt der Genres:

 

Neben traditionellen Märschen („Einzug der Gladiatoren“, „Alte Kameraden“, „Niemand zuliebe, niemand zuleide“) und politisch Gängigem („Deutschlandlied“, „Frontsoldatenmarsch“, „Unser Führer“) bringt Harmens beispielsweise auch Volkslied-Bearbeitungen („Des Försters Töchterlein“, „Weihnachtslieder“), Charakterstücke („Der Rose Hochzeitszug“), Romanzen (wie die japanischen „Mohnblumen“) und eigene Kompositionen („Festfanfare“) auf Schallplatte unter. Seine 1929 komponierte „Festfanfare“ wurde 1933 als Heeresmarsch III A, 60 in die Armeemarschsammlung aufgenommen. Die Militärkapelle unter Walter Harmens war übrigens die erste, von der der deutsche Rundfunk ein Konzert nach Übersee übertrug.

 

  • Odeon O 2051
    Odeon O 2051

Beliebtheit und Eigenart

Hört man sich Harmens‘ Schallplatten an, gerade im Vergleich zu anderen zeitgenössischen oder heutigen Darbietungen derselben Stücke, fallen durchaus Unterschiede auf: Harmens dirigiert seine Musiker nicht bis zum Exzess, kostet musikalische Höhepunkte nicht aus, sondern führt den Klangkörper beinahe wie ein klassisches Orchester. Militärmusik ohne Kitsch ist das in den meisten Fällen, sehr wohl stimmungsvoll und energiegeladen – doch durch andere musikalische Effekte erreicht, als bei vielen anderen Dirigenten. Becken und Pauken beispielsweise werden bei Harmens nicht laut als Knalleffekt eingesetzt, nicht wie im Rausch – sondern eher zurückhaltend, als Rhythmusakzent.

 

Überhaupt nutzt Harmens feinere Abstufungsmöglichkeiten als viele seiner Zeitgenossen, feinere Kontraste bei Lautstärken, Tempi und Ansätzen. Das Schmetternde, Rasselnde, Dröhnende, dick Aufgetragene ist nicht Harmens‘ Zeichen. Allerdings ebensowenig das ‚artig und sauber, doch seelenlos Durchgespielte‘ vieler unserer Zeitgenossen. (Oder wie will man die trotz modernster Aufzeichnungstechnik, trotz Hall und Stereo oft nur als Klangmasse gebrachten Aufnahmen einiger heutiger Kapellen derselben Stücke sonst nennen?) Harmens‘ Musik klingt in fast allen vorliegenden Beispielen gepflegter, abgestufter, und dabei gehaltvoller. Vielleicht erklärt dies teilweise seinen einstigen Verkaufserfolg.

 

In Potsdam spielte das Musikkorps im „Konzerthaus“ (Kaiser-Wilhelm-Straße 25–26, heutige Hegelallee, inzwischen abgerissen) jahrelang jeden Sonntagnachmittag im Winter zum Konzert und abends in kleiner Besetzung zum Tanz. Freiluftkonzerte auf dem Wilhelmplatz, Gartenkonzerte in der Berliner Hasenheide, bei Zenner, bei Kroll oder im Friedrichshain, Pfingstkonzerte, Vereinsvergnügen in kleiner Besetzung oder wöchentliche Einzelverpflichtungen ließen den Musikern nach Dienstschluss wenig freie Zeit – auch wenn sie dafür jeweils ein geringes Honorar erhielten. Das Trompeterkorps der Potsdamer Nachrichteneinheit unter Harmens galt damals als eines der beliebtesten der Reichswehr; bei allen größeren Veranstaltungen in und um Potsdam (so auch am 31. März 1933) war dagegen das gesamte Musikkorps der Nachrichten-Abteilung vertreten.

 

Walter Harmens sah man in Potsdam oft unterwegs mit seiner schweren Maschine (damals sprach keiner vom „Motorrad“), etwa jeden Morgen auf dem Weg zu seiner Nachrichtentruppe in Nedlitz und nach Dienstschluss wieder zurück. Er wohnte hier mit seiner Frau Elise, geborene Höllger (1879–1963) und den drei Kindern all die Jahre in der Brandenburger Vorstadt: Bis 1925 Im Bogen 1, danach zog er in ein von ihm und seinem Sohn selbst miterrichteten Siedlungshaus in der Sonnenlandstraße 30. Dieses Haus jedoch verkaufte er zehn Jahre später, weil seine beiden Töchter kurz nacheinander heirateten und es ihm eine Frage des Ansehens war, ihnen eine angemessene Aussteuer mit in die Ehe zu geben. Also zog das Ehepaar Harmens 1938 wieder um, diesmal in die Pestalozzistraße 5 – nach Kriegsende zur Roseggerstraße umbenannt.

 

  • Odeon O 11 043
    Odeon O 11 043

Dienstende

Mitten in die Zeit des Nationalsozialismus fiel Harmens‘ 40-jähriges Dienstjubiläum, das mit einem großen Ehrenappell gewürdigt wurde. Zu dieser Zeit war er schon nicht mehr bei der Nachrichten-Abteilung – denn seit 1935 leitete er das Trompeterkorps des Artillerie-Regiments 23, das ebenfalls in Potsdam-Nedlitz (in der Hohenlohe-Kaserne) stationiert war. Wertschätzung seines Könnens und Anerkennung seiner Verdienste drücken sich unter anderem darin aus, dass er zum militärmusikalischen Berater des III. Armeekorps in Berlin ernannt wurde und er als dienstältester Musikmeister der sechs deutschen Musik- und Trompeterkorps im In- und Ausland Konzertreisen antrat. Im zweiten Weltkrieg jedoch versetzte man ihn 1941 zum Befehlshaber der deutschen Truppen nach Kiew, und 1944 nach Dänemark.

 

Etwa Mitte Februar 1945 kehrte der 66-Jährige nach Potsdam zurück. Seine Wohnung in der Roseggerstraße wurde nach Beendigung der Kampfhandlungen 1945 Treffpunkt hoher sowjetischer Offiziere: Unter ihnen hatte sich herumgesprochen, dass der ehemalige Wehrmachtsangehörige Musikmeister gewesen war und zwei Instrumente (Trompete und Geige) virtuos beherrschte. Also spielte ihnen Walter Harmens entweder russische Weisen bis zum Weinen oder Tanzmusik bis zur Erschöpfung vor. „Wir Kinder haben uns dann immer an die Koppeln der Russen angehängt, die haben sich gedreht, und wir sind mit herumgeschleudert worden. So haben wir alle getanzt, wie die Verrückten“, erinnert sich heute Harmens‘ Enkel, der Militärhistoriker Volker Schobeß (geboren 1939). Für seine Musik bekam Walter Harmens von den Rotarmisten stets Essen mitgebracht: In der Mangelzeit bis 1947 eine Überlebenshilfe für die Familie und deren Freunde.

 

„Als Kind hab ich zu dieser Zeit im Keller entdeckt, dass die großen Kesselpauken noch da waren, von der 23. Artillerie, vom Trompeterkorps. Ohne den Behang allerdings, der war entfernt. So wie überhaupt alles, was einen Bezug zum Militär hatte, Opas Uniformen und so weiter. Die Pauken aus Kupfer waren wohl deshalb im Keller versteckt, weil sie als Buntmetall einfach einen großen Wert darstellten“, erinnert sich Volker Schobeß heute. „Aber die ähnlich kostbaren Behänge, wie sie noch auf alten Fotos zu erkennen sind – mit Fransen, mit den Kürzeln A.R. 23, mit Adler, mit Hakenkreuz, mit Verzierungen, Stickereien farbig und silbern – das hatten meine Großeltern nach dem Krieg natürlich alles in den Ofen gesteckt und verbrannt.“

 

Wie so viele ehemalige Militärmusiker kam Harmens bis 1957 bei der Konzert- und Gastspieldirektion unter und verdingte sich dort als Tanz- und Unterhaltungsmusiker. Als dies aus Altersgründen immer schwieriger wurde, wechselte er aus finanziellen Gründen nach Berlin-Lichtenberg: Die Bundesrepublik hatte Verantwortung und Rechtsnachfolge des früheren Deutschen Reiches übernommen, leistete damit auch dessen finanzielle Pflichten, wie die Ruhestandsbezüge an frühere Staatsbedienstete nach § 131 GG. Sechs Jahre darauf starb Walter Harmens in Berlin-Lichtenberg 84-jährig, seine Ehefrau Elise nur wenige Monate nach ihm. Er wurde auf dem Städtischen Friedhof (Moltkestraße 42) in einem Urnengrab beigesetzt.

 

Quellen

Objekte und Fotos: Sammlung Volker Schobeß | Schallplatten: Lale-Andersen-Archiv, Potsdam. | Volker Schobeß: Das Potsdamer Trompeter-Korps der 3. (Preuß.) Nachrichten-Abteilung unter Walter Harmens. | Matthias W. Moritz: Walter Harmens, Chronologie. DGFMM 2013. | Sudermann: Reise nach Tilsit.

  • Buch Volker Schobeß - Das Kriegshandwerk der Deutschen
    Walter Harmens‘ Enkel, der Militärhistoriker Volker Schobeß, ist Potsdamer. Aktuelle Forschungsbeiträge z.B. zur Militärmusik der 3. (preuß.) Nachrichten-Abteilung, Potsdam, sind in seinem neuesten Buch zu finden: „Das Kriegshandwerk der Deutschen. Preußen und Potsdam 1717–1945“ Band II (Fotos und Dokumente), Trafo-Verlag: Berlin 2016. – Band I erschien 2015.

Autor: M. Deinert – Dieser Text erschien mit leichten Änderungen abgedruckt im Kultur- und Gesellschaftsmagazin für das Land Brandenburg, potsdamlife, Heft 42 (=4/2015), S. 54–57.

  • PotsdamLife Heft 42
    potsdamlife Heft 42