„Liebchen adé, scheiden tut weh, Annemarie“ – zu diesem Dauerhit drehen sich heute noch vor allem in der brandenburgischen Provinz viele Tanzpärchen. Die unverwüstliche Annemarie-Polka schrieb 1934 der Wahl-Potsdamer Herms Niel. Er schrieb noch unzählige andere Lieder, schlicht, eingängig, viele davon sind volkstümlich geworden („Im Rosengarten von Sanssouci“ oder „Antje, mein blondes Kind“). Kritische Historiker dagegen messen ihn heute nicht an dem Liedgut, das ihn selbst und die Zeiten überdauert hat, sondern an jener Musik, mit der er während der NS-Zeit Ruhm, Rang, Vorzug, mithin gut Geld verdiente: Marsch- und Soldatenlieder, todverachtend, mädchenselig, heimatromantisch. Er gilt als einer der bekanntesten Komponisten des ‚Dritten Reiches‘.
Leben | Werk
Herms Niel, Jahrgang 1888, mit bürgerlichem Namen Hermann Nielebock, ursprünglich aus der Gegend um Genthin stammend. Seit 1906 war er Posaunist und Oboist im 1. Garde-Regiment in Potsdam, versuchte sich nebenher als Verfasser von Unterhaltungsmusik und kam damit zu großer Bekanntheit: In Text, Melodie oder Bearbeitung schuf er Musik zum Tanzen, Musik zum Feiern, Musik für Soldaten wie ihn selbst. Klare Gebrauchsmusik, aber mit der Möglichkeit zum Kassenschlager. Seine Noten vertrieb er bei Erich Huhn in Potsdam, oder Karl Wilke in Berlin-Wilmersdorf, oder in seinem eigenen Musikverlag Sanssouci, Waisenstraße 52. Auch als Orchesterleiter tat er sich hier hervor.
Und schon damals polarisierte er. Erst recht heute: Viele sagen naserümpfend, er sei nur ein Pfeifkomponist gewesen, der seine Melodien dem Arrangeur Erich Gutzeit vorsummte, weil er selbst keine Noten lesen konnte; der später willfährig als „Professor Bumm-Bumm“ (so genannt wegen der vielen charakteristischen Paukenschläge seiner Marschmusiken) den Kampfkolonnen des Hitlerkrieges mitreißende Melodien zum stumpfen Rhythmus lieferte. Und tatsächlich: „Es ist so schön, Soldat zu sein – Rosemarie“ vertonte er, „Schneidig ist die Infanterie“ oder „Wir sind Kameraden“, „Tschingta, tschingta, bummtara“ und „Jawoll, das stimmt, jawoll“. Ohrwürmer. ‚Stimmungsbomben‘.
Herms Niel stand mit den politischen Zielen der Nazis keineswegs im Widerspruch. Mit dem nach 1933 herrschenden System lag er ‚auf Linie‘, weil ihn keine persönliche, körperliche Eigenschaft, kein anderes Denken, kein zufälliges, willkürliches Merkmal mit dem NS-Weltbild irgend in Schwierigkeit brachte, wie andererseits viele seiner Wirk- und Zeitgenossen oder deren Freunde, für die die heraufkommenden Zeiten existenzbedrohend und existenzvernichtend wurden. Was er schrieb, was er in Noten setzte, kam an, wurde vielfach populär, wurde mitgesungen. Beim einmal gefundenen musikalischen Erfolgsrezept blieb er und nutzte es jedesmal wieder, ohne künstlerische Experimente. Somit liest sich die Liste seiner Schöpfungen seit der Etablierung als Marschkomponist geradezu einseitig. Niel produzierte.
Im nationalsozialistischen Führerstaat fand Herms Niel seinen Platz – schnell, massentauglich, dauerhaft. Er tat auch selbst einiges dazu. Auf den 21. März 1933 beispielsweise, den sogenannten Tag von Potsdam mit Hindenburg und Hitler in der Garnisonkirche, setzte er sogleich das Marsch-Potpourri „Der Geist von Potsdam“ zusammen. Die braunen Machthaber boten solch beflissenem musikalischen Geschick eine passende Wirkungsstätte:
Der vom Freiwilligen Arbeitsdienst der Weimarer Republik (zur Bekämpfung der üblen Effekte massenhafter Jugendarbeitslosigkeit) zu einer Pflichtorganisation umstrukturierte Reichsarbeitsdienst (RAD) braucht für seine Führerschule in Potsdam 1934 ein Vorzeigeorchester. Herms Niel überlegt nicht lange. Als 1939 Hitler den II. Weltkrieg losbricht, ist Niel 51 Jahre alt, Obermusikzugführer und auf der Höhe seines Erfolgs. Das ‚Englandlied‘ des Heide-Dichters Hermann Löns vertont er: „Wir fahren gegen Engelland“. Im großdeutschen Rundfunk ist er Dauergast.
Zwei Jahre darauf komponiert er im Wettstreit mit dem gerade 30-jährigen Norbert Schultze – dem Komponisten vieler Filmmusiken, Aufnahmeleiter bei der Telefunken, Schöpfer ähnlich populärer Ohrwürmer („Lili Marleen“) und ganz ähnlich einsetzbar („Bomben auf Engelland“) – das von Goebbels beauftragte neue Lied der Nation: „Führer befiel – wir folgen dir“. Mit dem jungen Schultze verbindet Niel der Wunsch zum eigenen Stellenwert im NS-Getriebe, nüchtern und pragmatisch: beschäftigt zu sein, dazuzugehören, anerkannt zu sein, gut entlohnt zu sein. Beide Kompositionen werden mit großem Orchester aufgenommen und Goebbels zur Entscheidung vorgespielt. Das Lied des Jüngeren macht jedoch das Rennen.
Daraufhin setzt Herms Niel, wie schon ein Jahr zuvor, etliche Texte des Blut-und-Boden-Dichters Heinrich Anacker in Musik, wie „Deutschland, schönstes Land der Erde“ oder „Es blitzen die stählernen Schwingen“ oder „Vorwärts nach Osten“. 1941 ist auch das Jahr, in dem Herms Niel einen Ehren-Professorentitel am ‚Führergeburtstag‘ erhält, trotz Krieg und Titelsperre.
Auf dem Gebiet des sentimentalen Tanzschlagers, wo er 1928 mit „Im Rosengarten von Sanssouci“ erstmals weithin berühmt geworden war, sucht er in der Nazizeit keinerlei Erfolge mehr. Statt Tagesschlagern möchte er vor allem dauernde Volkstümlichkeit erreichen und bedient neben so mancher Region des Reiches („Mein schönes Fuldatal“ oder „Oberschlesien ist mein liebes Heimatland“) vor allem seine eigene Wahlheimat Potsdam und deren nähere Umgebung mit Liedern. Sanssouci steht noch einige Male im Liedtitel, findet aber nicht denselben Anklang wie früher; auch nicht Stücke wie: „Auf der Mopke“ – „Paretzer Luisen-Polka“ – „Mondnacht auf den Havelseen“ – „Um die alte Spree herum“ – „Berlin ist doch die schönste Stadt (In Berlin, da tut sich was)“ und ähnliches.
Niel schreibt und setzt in Musik, was zu seiner Zeit passt, überdeutlich – zum aktuellen Krieg, zu erwünschter Kameradschaft, zur jeweils vorgegebenen Marschrichtung: „Der Führer kommt“ – „Das ist SA“ – „Die lustigen Frontsoldaten“ – „Wir haben einen Wall gebaut“ – „Stuka über Afrika“ – „Wer sich uns entgegenstellt, der fällt!“ – „Wir von der U-Boot-Waffe“ – „Mit Mercedes-Benz voran“ – „An die Gewehre!“ – „Der Sieg wird unser sein“ – „Mit England wird jetzt Schluß gemacht (Helga, schöne Helga)“. Immergleiche Variationen eines Themas. Allesamt Losmarschierlieder.
Und immer – Frauennamen! Kriegs- und Soldatenseligkeit trifft Hausbackenheit. Neben klarem Marschrhythmus, exzessivem Paukenschlag und textlicher Einfachheit sind die Frauennamen, an die sich überdurchschnittlich viele seiner Lieder richten, noch ein auffälliges Merkmal Nielscher Musikdichtung. Nur eine Auswahl soll außer den bereits genannten Helga, Annemarie, Rosemarie und Antje folgen: „Kleine Elisabeth“ – „Gerda, Ursula, Marie“ – „Rosa, Rosa, mein Mädel“ – „Erika“ – „Lieselott“ – „Waltraut ist ein schönes Mädchen“ – „An Renate“ – „Marie, Mara, Maruschkaka“ – oder auch „Wenn ich mich mit der Male im grünen Grase aale“ und „Babette bläst das Hammelbein“.
Der Potsdamer Musikwissenschaftler Dr. Thomas Freitag hat in Form einer Erzählung das schwierige Unterfangen gewagt, Herms Niel dem jahrzehntelangen Halbwissen zu entziehen und mit allen Stationen seines Lebens darzustellen. Die Erzählung versucht, neben Niels persönlichen Antrieben heutigen Lesern anschaulich jene Zeit und Gestimmtheit zu vermitteln, die aus politischer Absicht bestimmte Facetten eines Talentes förderte, ihm damit Chancen zu Breitenwirkung, Einfluss, Erfolg und Ruhm bot. Die ihm gebotenen Möglichkeiten hat Niel alle unumwunden genutzt.
Nach Kriegsende ist seine musikalische Laufbahn genau deshalb vorbei. Verordnungen der Alliierten Militärregierung verbieten ausdrücklich, „Kompositionen bekannter nazistischer Autoren wie Herms Niel, Norbert Schultze usw.“ neu aufzulegen. Herms Niel lebt in dieser Zeit wohl von den Resten seines einstigen Wohlstands, versucht sich kompositorisch unpolitisch in Kirchenmusik.
Er ist sogar unterrichtend tätig – kaum glaubt man es – für die russische Besatzungsarmee! „Der Russe ist nicht arrogant, er gönnt dem Menschen das Leben“, schreibt er Februar 1946 in einem Brief an seinen Vater. „Denn stelle Dir vor, der Russe würde es mit uns auch so machen, wie unsere es in Rußland getrieben haben sollen. Den Zeitungen nach muß es doch schrecklich gewesen sein. Und wenn nur etwas Wahrheit dabei ist, so ist es eines Deutschen nicht würdig.“ Niel flieht dennoch ins Emsland, verfolgt interessiert die Nürnberger Prozesse. Am 16. Juli 1954 stirbt er nach kurzer schwerer Krankheit. Alle Zeitungen widmen seinem Tod nur kleine Meldungen, ganz im Gegensatz zu seiner eigentlichen Bekanntheit.
Und heute? Herms Niel war einst sehr populär. Genthiner, Potsdamer, Märker, der an Musik lieferte, was lief, was gefragt war, was allzu gern genommen wurde, worin er brillieren konnte. Er war kein Vorbild, beansprucht somit kein Denkmal und keinen Straßennamen. Doch seine einstige Popularität zwingt uns, ihn als einen unbequemen Markstein deutscher U-Musikgeschichte zur Kenntnis zu nehmen. Auch, wenn es einen musikalischen Stil betrifft, mit dem wir Heutigen verständlicherweise nur wenig anfangen können. Wenn die Annemarie-Polka das Einzige wäre, was von ihm noch lebt, handelt es sich vielleicht um das Beste und Nützlichste, was von ihm überdauern konnte. Das meiste Übrige ist als Zeitgeschmack und mitreißende Hörkulisse eines Vernichtungskrieges – und zwar so tief hinab wie einst hochgelobt – untergegangen.
Quellenangaben
- Gemeinsame Normdatei (GND) der DNB, Nr. 117001279
- Thomas Freitag: Niel. Regia-Verlag, Cottbus 2014.
- GEMA-Einträge [2016]
- Norbert Schultze: Mit dir, Lili Marleen. Atlantis-Musikbuch-Verlag, Zürich & Mainz [ca. 1995]
- Heinz Goedecke & Wilhelm Krug: Wir beginnen das Wunschkonzert für die Wehrmacht. (2. Auflage) Nibelungen: Berlin 1940.
Autor: M. Deinert – Dieser Text erschien mit leichten Änderungen abgedruckt im Kultur- und Gesellschaftsmagazin für das Land Brandenburg, potsdamlife, Heft 39 (=1/2015), S. 56–58.